Zusammenfassung des Vortrags vor dem Lions Club Erlinsburg am 8. März 2023 in Kestenholz/SO
Im Februar 2022 erwarteten die meisten westlichen Beobachter und vor allem auch die Medien, dass die russische Armee nach ihrem Einmarsch in der Ukraine das Land innerhalb von Tagen, vielleicht wenigen Wochen im Besitz nehmen würde. Im Vordergrund steht ein Jahr nach Beginn des Einmarschs die Frage, ob wir im Westen die russische Armee jahrelang überschätzt haben oder was die Gründe für die jetzige Lage sind.
Die Antwort darauf ist eine einfache: Eine militärische Eroberung der linksufrigen Ukraine mit militärischen Mitteln durch Russland war nicht durchführbar, geschweige denn die Besetzung des ganzen Landes. Das lag nicht in der Macht der russischen Armee. Der Umstand, dass die Russen mit ca. 200’000 Mann eine Armee von 260’000 Mann, in ungünstiger Jahreszeit und durch teilweise schwieriges Gelände angriffen, ist ein Hinweis darauf, dass die Operation kurzfristig organisiert wurde. Heute steht die russische Armee in etwa dort, wo es aufgrund ihrer Möglichkeiten zu erwarten war.
Karte: Angriffsplan von STRATFOR aus dem Jahr 2015 und Frontverlauf am 25.03.2022 (1)
Damit war klar, dass die Ende Februar 2022 überraschend eroberten Gebiete im Sommer nicht zu halten waren, zumal es sich bei der ukrainischen Armee um die zahlenmäßig zweitstärkste Europas handelte, gleich hinter der russischen. Sie ist aus den Ruinen von 2013 auferstanden und umfasste im Januar 2022 um die 25 Brigaden Kampftruppen mit den entsprechenden Unterstützungskräften. Und sie besaß acht Jahre Kampferfahrung. Diese Armee zu zerschlagen, war eines der Kriegsziele Russland, das mittlerweile erreicht wurde. Die Ukraine hat im vergangenen Jahr eine zweite Armee aufgestellt und fordert vom Westen nun Waffen für eine dritte.
Im Operationsgebiet im Osten der Ukraine liegen die Vorteile aus rein geographischen Gründen auf Seiten Russlands. Die Dichte des Eisenbahnnetzes im Donbass und im Raum Kharkiv/Kharkov schafft günstige Voraussetzungen für die Versorgung starker konventioneller Kräfte bis auf eine Linie Poltava – Zaporozhie (2). Ein Stoß weiter nach Westen wäre nicht ratsam. Deshalb sind großangelegte und weiträumige Angriffe der russischen Armee auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. In 200 bis 300 km Distanz jenseits der Staatsgrenze endet die Fähigkeit Russlands zur militärischen Kräfteprojektion. Insofern teile ich die Befürchtungen, wonach die russische Armee in Kürze nach Mitteleuropa vorstoße, nicht. Gleichzeitig muss man sich aber auch bei der NATO in Brüssel dessen bewusst sein, dass ein Krieg an Russlands Grenzen schwierig zu gewinnen ist.
Bilanz
Russland hat bereits in einer Anfangsphase des Kriegs wichtige Zwischenziele erreicht und hat derzeit gute Aussichten, auch weitere Ziele zu erreichen. Die Vernichtung der militanten Rechten in der Ukraine und die Zerschlagung der zweitstärksten Armee in Europa rückt mit zunehmender Dauer des Krieges in erreichbare Nähe für Russland. Deshalb wird der Kreml zum aktuellen Zeitpunkt daran interessiert sein, den Krieg noch eine Weile fortzuführen.
Abbildung: Bilanz russischer Kriegsführung bis März 2023 (3)
Russland hat sich wie schon im Frühjahr 2014 auch in wirtschaftlicher Hinsicht gut auf einen zukünftigen Konflikt vorbereitet und die Wirkungen westlicher Wirtschaftssanktionen mit eingerechnet. Wir werden nichts gewinnen, wenn wir der Propaganda Glauben schenken, welche die russische Armee als einen Haufen unmotivierter und notorischer Kriegsverbrecher, geführt von unfähigen Generälen darstellt.
Sprachenstreit
Die Sprachenfrage in der Ukraine ist nicht so einfach, wie unsere Presse uns weiszumachen versucht. Es gibt keinen “Röstigraben” wie in der Schweiz, der deutsch- von französischsprachigen Regionen trennt. Die Frage der Muttersprache ist in der heutigen Ukraine oftmals auch eine Frage des Soziolekts. Die Bewohner ländlicher Gebiete im Osten sprechen oftmals Surzhyk, eine Mischform von Russisch und Ukrainisch, während die Menschen in den urbanen Zentren mehrheitlich russisch sprechen. Die russische Sprache ist eine Quelle der Soft Power Russlands, die oft unterschätzt wird. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen Russland leben über 100 verschiedene Ethnien und Russisch dient als lingua franca – auch in der Ukraine.
Karte: Gebrauch der russischen Sprache in der Ukraine, “LNR” und “DNR” und “Neurussland”-Ideen (4)
Seit der Unabhängigkeit ihres Landes betrieben alle ukrainischen Regierungen eine Politik der Ukrainisierung, denn die ukrainische Sprache sollte mangels gemeinsamer historischer Erfahrungen die Basis des ukrainischen Nationalstaats werden. Immerhin haben Kasachstan und Belarus zwei Amtssprachen anerkannt. Neben Russland ist Kasachstan das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion, das sich als Vielvölkerreich betrachtet. Fast alle anderen betreiben eine mehr oder weniger ausgeprägte Politik des Nationalismus. Der Konflikt in der Ukraine könnte sich leicht anderswo wiederholen.
Vorgeschichte und Minsker Abkommen
Es käme einer Manipulation gleich, die Vorgeschichte des aktuellen Kriegs und die Minsker Abkommen von 2014 und 2015 wegzulassen. Die Ständige Vertretung der Schweiz bei der OSZE verfolgte die Einhaltung des Waffenstillstands von Minsk ab Februar 2015 systematisch. Dabei stellte sich heraus, dass beide Parteien in vergleichbarem Ausmaß den Waffenstillstand verletzen. Die Patrouillen der Special Monitoring Mission der OSZE, welche ab Herbst 2014 den Waffenstillstand überwachte, wurden regelmäßig behindert: Oftmals wurde ihnen die Durchfahrt durch Checkpoints oder der Zugang zu Objekten verweigert. Das geschah fast ausschließlich auf dem Territorium der sogenannten Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk. Beide Seiten behinderten beinahe täglich die Drohnen der SMM, indem Funkverbindungen zum Operateur am Boden oder der Empfang von GPS Satellitendaten gestört wurden. Regelmäßig werden auch Wohngebiete in Dörfern und Städten mit schweren Waffen beschossen. Für diese Taten waren zu 80% die ukrainischen Regierungstruppen verantwortlich. Das spiegelt sich auch in der Statistik der zivilen Opfer, welche das Büro des UN-Menschenrechtskommissars in Kiew führte.
Tabelle: Statistik der zivilen Opfer im Osten der Ukraine 2018 bis 2021 (5)
Aktuelle Lage: Der Fleischwolf von Bakhmut
Wenn man westliche Presseberichte mit russischsprachigen vergleicht, bekommt man manchmal Zweifel, ob beide Seiten in Bezug auf den Krieg in der Ukraine vom selben Ereignis sprechen. Beide Seiten haben ihren Informationsraum gut im Griff und die Sprachbarriere hilft hierbei. Interessant ist aber, dass sich die nachrichtendienstlichen Quellen trotz all des Propaganda-Lärms über die Lage im Kriegsgebiet eigentlich einig sind.
Derzeit ist von einem Abzug der ukrainischen Armee (UAF) aus Bakhmut (oder Artemovsk) nicht viel zu sehen. Wie schon im Februar dieses Jahres stehen in der Stadt nach wie vor sechs Brigaden und eine Reihe selbstständiger Bataillone der ukrainischen Armee, gemeinsam mit Sicherungsverbänden aus Polizei und Nationalgarde. Zusammen mit den nördlich und südlich anschließenden Verbänden dürfte somit in gutes Dutzend Brigaden der UAF im Raum Seversk – Bakhmut – Kostantynivka (russisch Konstantinovka) eingesetzt sein. Reserven haben die UAF in diesem Raum kaum zur Verfügung und die Russen werden durch permanenten militärischen Druck versuchen, die Bildung neuer Reserven zu verhindern und die UAF zum Abzug von Reserven von anderen Abschnitten der Front zu zwingen.
Ähnlich wie das benachbarte Soledar ist auch Bakhmut Standort von Salzminen. Darüber hinaus befinden sich in der Stadt große Fabrikareale wie ein Buntmetallwerk und eine Großmetzgerei. Auf diesen Arealen mit mutmaßlich weiteren unterirdischen Teilen könnten die Kämpfe noch tage- vielleicht wochenlang weitergehen, ähnlich wie im Stahlwerk AZOVSTAL in Mariupol im April und Mai vergangenen Jahres.
Auf der anderen Seite der Front setzt der Inhaber der PMC “Wagner”, Yevgeny Prigozhin, seine Forderungen seit längerer Zeit mittels öffentlicher Auftritte durch und scheint damit nicht zuletzt auf Verteidigungsminister Shoigu zu zielen. Offenbar hat Prigozhin politische Ambitionen. Er würde sich sicherlich gerne die Einnahme von Bakhmut an seine Fahnen heften. Dem Oberkommando der russischen Streitkräfte dürfte es um etwas anderes gehen, nämlich den weiteren Betrieb des “Fleischwolfs” in Bakhmut. Die Stadt hat per se nicht die strategische Bedeutung, die ihr angedichtet wird. Aber wenn sie in russische Hände gerät, wird es den UAF schwerfallen sie zurückzuerobern, denn sie haben kaum Erfahrung im Angriff auf stark ausgebaute Stellungssysteme im urbanen Umfeld. Die Russen haben solche Erfahrungen in Mariupol, Severodonetsk und anderen Städten gesammelt. Dieser Krieg ist auch ein Informationskrieg und der Verlust von Bakhmut könnte sich negativ auf die Stimmung in der Bevölkerung und bei Verbündeten der Ukraine auswirken.
Lehren aus der Geschichte
Möglicherweise haben die Russen bei der Anlage der Operation in der Ukraine aus ihrer eigenen Kriegsgeschichte gelernt, zum Beispiel aus der Niederlage im russisch-japanischen Krieg von 1904/05. Im Februar 1904 überfielen die Japaner die russische Flotte in Port Arthur und setzten tags darauf bei Inchon Truppen an Land, die rasch nach Norden, über den Yalu-Fluss und danach auf Port Arthur vorstießen. Die Belagerung von Port Arthur von See und von Land her begann zu Beginn des Monats August 1904. Danach richteten sich die Japaner zur Verteidigung ein und schlugen im Raum Mukden – heute Shenyang – drei russische Gegenangriffe ab. Dadurch wurden die Russen so stark geschwächt, dass sie dem japanischen Gegenangriff bei Mukden nicht mehr standhalten konnten und sich in die Mandschurei zurückziehen mussten. Nachdem die japanische Flotte Gegenangriffe der russischen Marine abgewehrt hatte, ging Japan auch zur See in die Offensive und besetzte im Juli 1905 Sakhalin. Weitere russische Gegenoffensiven mussten die Japaner danach nicht mehr abwehren, denn das Zarenreich kapitulierte.
Die Japaner nutzten damals geschickt die Vorteile der verschiedenen Gefechtsformen und schwächten die Russen so weit, dass diese den Krieg nicht fortsetzen konnten. Vielleicht haben die Russen 2022 die damalige Blaupause der japanischen Kriegsführung umgedreht und auf die Ukraine übertragen. Wenn das der russischen Absicht entspricht, dann ist das ein weiterer Grund, keine großen russischen Offensiven zu erwarten.
Konsequenzen für die Schweiz
Was wir derzeit brauchen, ist ein neues Konfliktbild, nicht ein aufgewärmtes Feindlind. Ersteres umfasst vor allem eine klare Vorstellung von der viel zitierten “hybriden Kriegsführung”. Wir sollten uns erst über solche Fragen Klarheit verschaffen, bevor wir auf dem Rüstungsmarkt einkaufen gehen und alte Waffensysteme reaktivieren. Wir sind derzeit in akuter Gefahr, Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe zu tätigen.
Anmerkungen:
- Quelle: STRATFOR https://worldview.stratfor.com/article/gaming-russian-offensive, Ergänzungen: Verfasser
- Siehe Ralph Bosshard: Leopard-Panzer an der Grenze der Geografie, bei bkoStrat, 04.02.2023, online unter https://bkostrat.ch/2023/02/04/leopard-panzer-an-der-grenze-der-geografie/.
- Quelle: Verfasser.
- Quelle: https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/ukraine-kampf-gegen-die-russische-sprache/.
- Quelle: https://ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-related%20civilian%20casualties%20as%20of%2031%20December%202021%20%28rev%2027%20January%202022%29%20corr%20EN_0.pdf, Hervorhebungen: Verfasser.
- Titelbild: Army Bayonet Red Army, online unter https://pixabay.com/vectors/army-bayonet-red-red-army-1296331/.