Seit dem Anschlag auf die Brücke von Kertsch haben die russischen Streitkräfte systematisch das Stromnetz der Ukraine zerschlagen, wohl eher aus dem Kalkül heraus, die Ukraine langfristig zu schwächen, als aus unmittelbarer Rache für den Angriff auf die Brücke. Kurz vor den Midterm Elections in den USA am 8. November wird die Ukraine nichts unversucht lassen, um sich die Aufmerksamkeit der Welt zu sichern. Gleichzeitig wird Russland wohl noch Zurückhaltung üben. Die mobilisierten 300’000 Reservisten eröffnen dem Kreml neue Möglichkeiten.
Hauptschlagzeile dieser Tage ist natürlich der Drohnenangriff auf die Stadt und den Hafen Sewastopol. Gemäß russischen Angaben wurden acht Drohnen und sieben unbemannte schwimmende Objekte abgewehrt. Ein Minensuchboot der russischen Schwarzmeerflotte sei beschädigt worden. Die ukrainische Seite will hingegen die Fregatte “Admiral Makarov” beschädigt haben. Welche Version hier stimmt, ist noch unklar. Ukrainische Quellen verbreiteten Videoaufnahmen, die von einer schwimmenden Drohne aufgenommen worden seien, welche sich der “Admiral Makarov” näherte, ohne dass diese Abwehrmaßnahmen getroffen hätte. Sollte sich dies als wahr erweisen, wäre zu klären, weshalb die Drohne das russische Schiff nicht versenkte. Eine weitere Seedrohne wurde durch Maschinengewehr-Feuer von einem russischen Hubschrauber aus zerstört. Möglicherweise haben sich die ukrainischen Streitkräfte UAF auf Angriffe mit unbemannten schwimmenden Objekten verlegt, entweder, weil die Schiffsabwehrraketen des Typs “Neptun” erfolglos blieben oder weil sie nicht mehr verfügbar sind. Eine russische Meldung behauptete unlängst, die entsprechende Fabrik bei Kharkiv/Kharkov (1) sei zerstört worden. Auf jeden Fall zeigt das Ereignis, wie Seekrieg in Zukunft aussehen könnte.
Die russische Seite erklärte, der ukrainische Angriff sei mit britischer Hilfe erfolgt. In der Tat bildet die Royal Navy ukrainische Taucher aus, möglicherweise eben nicht nur im Bereich Minenräumung. Russland beschuldigt Großbritannien auch, die North Stream Gaspipelines sabotiert zu haben und brachte die Angelegenheit vor den UN-Sicherheitsrat. Der Angriff auf Sewastopol sei von einem Handelsschiff ausgegangen, das aus Odessa in Richtung Bosporus ausgelaufen sei. Die russischen Angaben, wonach ein US-Aufklärungsflugzeug zum Zeitpunkt des Angriffs über dem Schwarzen Meer operiert habe, lassen sich aus unabhängigen Quellen bestätigen. Ein US-amerikanisches Fluggerät namens “Forte 10” kreiste tatsächlich vor der Krim. Ob es tatsächlich vom sizilianischen Catania aus gestartet war, oder aus der nahegelegenen NATO-Basis Sigonella wird noch zu klären sein.
Abbildung: Flugzeuge über dem Schwarzen Meer, 29.10.2022, 04:04 Uhr
Bild: flightradar24.com [Stand: 02.11.2022]
Russland zog als Folge davon seine Sicherheitsgarantien für Schiffe aus Odessa vorübergehend zurück und ließ sich seine erneute Kooperation sicherlich in der einen oder anderen Form “bezahlen”.
Raum Kherson
Im Raum Kherson – Krivyi Rih/Krivoi Rog – Mykolaiv/Nikolaev griffen die UAF in den letzten Tagen an verschiedenen Orten in Stärke von jeweils Zügen bis Kompanien an, so bei Davidov Brod, Ishchenka und Pyatykhati. Verteilt auf eine Front von ca. 40 km sind diese Angriffe wohl eher als gewaltsame Aufklärung zu werten, und weniger als Angriffsoperation. Hatten hiesige Medien vor Tagen noch berichtet, die Russen würden eine Räumung der Stadt Kherson vorbereiten, so ist auf ukrainischer Seite offenbar in Nikolaev dasselbe in Gang. Die lokalen ukrainischen Behörden ordneten die Evakuation aller Zivilpersonen, die nicht vitale Infrastruktur betreiben, aus der Stadt an.
Abbildung: Front und Grenze im Raum Mykolaiv/Nikolaev – Kherson
Karte: google, Ergänzungen Verfasser
Im Zentrum dieses Frontabschnitts stehen die russischen Truppen zum Teil 20 km tief in der Oblast Mykolaiv und können folglich noch Gelände preisgeben, werden aber wahrscheinlich versuchen, den Nordosten der Oblast Kherson wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
In Kalanchak, unmittelbar nördlich des Übergangs von der Krim in die Oblast Kherson seien in den letzten Tagen Verstärkungen aus Tschetschenien angekommen.
Raum Zaporozhie – Donetsk
Entlang der gesamten Front zwischen Zaporozhie und Svatove in der Oblast Lugansk erfolgten keine Angriffe der UAF mehr. Der seit August erwartete Angriff der UAF östlich von Zaporozhie bleib bislang aus. Dies ist der wichtigste Abschnitt für die Ukrainer, denn ein erfolgreicher Angriff aus dem Raum Zaporozhie ans Schwarze Meer bei Berdiansk würde die russischen Kräfte im Süden von jenen im Donbass trennen und diesen eine zusammenhängende Kampfführung erschweren.
Im Raum Vugledar südwestlich von Donetsk vermelden russische Quellen geringfügige Geländegewinne in der Ortschaft Pavlivka. Auch in der stark ausgebauten Ortschaft Mariinka sind die Russen im Angriff. Am Nordwestrand von Donetsk sind Angriffe der russischen Armee in Gang: Im Zentrum von Pervomaiskoe wird gekämpft und Vodiane sei unter russischer Kontrolle. Wenn das zutrifft, dann ist der gesamte Flughafen von Donetsk, der 2014 in Kämpfen mit den sogenannten “Cyborgs” der UAF zerstört worden war, unter russischer Kontrolle.
Abbildung: Front westlich von Donetsk
Karte: liveuamap, Ergänzungen Verfasser
In diesem Abschnitt haben die russischen Truppen – wohl primär die ehemaligen Truppen der Volksrepublik Donetsk – einige der ältesten und vermutlich bestausgebauten Stellungen der UAF durchbrochen und werden versuchen, auch weiterhin vorzustoßen, um die Stadt Donetsk aus dem Wirkungsbereich des Gros der ukrainischen Artillerie zu bringen. Donetsk leidet seit acht Jahren unter dem Beschuss der ukrainischen Artillerie. Sollten die UAF die alte Linie nicht halten können, werden sie sich wohl auf die zweite Verteidigungslinie bei Galitsynovka – Ivanovka – Novoseilivka Druha (exkl.) zurückfallen lassen.
Scheinbar sind die Truppen der ehemaligen Volksrepublik Donetsk und Angehörige der “Gruppe Wagner” im Raum Bakhmut/Artemovsk – Soledar weiter vorgerückt: Opytnoye, Zaitsevo, Vesyolaya Dolina Otradovka und Ivangrad seien unter Kontrolle gebracht worden.
Abbildung: Front im Raum Bakhmut/Artemovsk – Soledar
Karte: liveuamap, Ergänzungen Verfasser
Raum Luhansk/Lugansk
Im Nordosten der Oblast Lugansk, wo die UAF die Russen hinter den Fluss Oskol zurückgedrängt hatten, lief sich der ukrainische Angriff fest. Angriffe der UAF, verstärkt mit rumänischen Söldnern, auf Kuzemovka seien abgewehrt worden. Der Gegenangriff einer russischer Bataillons-Kampfgruppe aus der 20. Armee soll die Lage bei Nevskoe – Makeevka stabilisiert haben. Auch bei Chervonopopovka und Yampolovke haben die Russen angegriffen. Die Ortschaft Dibrova sei von einer Einheit Kosaken eingenommen worden. In diesem Abschnitt wird es den russischen Truppen – allen voran wohl denjenigen, die Teil der bewaffneten Kräfte der Volksrepublik Lugansk gewesen waren – darum gehen, die 5 km von Kuzemovka entfernte Grenze zur Oblast Kharkov zu err
Abbildung: Front und Grenze der Oblast im Nordosten von Lugansk
Karte: google, Ergänzungen Verfasser
Generell spielen sich in diesem Abschnitt der Front die Kämpfe weitgehend entlang der politischen Grenze der Oblast Lugansk ab, die wohl letzten Endes das Ziel der russischen Bemühungen sein dürfte. Allenfalls suchen die Russen hier die Verteidigung an günstigen Hindernislinien, wie den kurz vor der Oblast-Grenze liegenden Fluss Zherebets.
Insgesamt ist festzuhalten, dass beide Seiten in den letzten Tagen nur Angriffe bescheidenen Ausmaßes führten.
Mobilisation
Gemäß Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sollen in der anfänglich teilweise chaotisch verlaufenen Mobilisation 300’000 Reservisten mobilisiert worden sein, von denen bereits 82’000 im Operationsgebiet stehen. Dort wurden 41’000 in die bestehenden Formationen der russischen Armee eingegliedert, die andere Hälfte betreibt wohl Ausbildung. Das Gros der mobilisierten Reservisten ist gemäß russischen Angaben aber noch in Russland mit Ausbildung beschäftigt.
Auch in Belarus werden Vorbereitungen für eine Mobilmachung getroffen. Minsk will wohl die Fehler vermeiden, die der russische Verbündete machte. Die Armee von Belarus ist mit einem Friedensbestand von sechs Kampfbrigaden im Vergleich zu denjenigen der Nachbarn Polen und Ukraine klein und sie ist auch nicht wirklich modern ausgerüstet. In den letzten Tagen sei die Funktion der Kameras, welche die belarussischen Autobahnen überwachen, eingeschränkt worden. Möglicherweise finden Truppenverschiebungen statt.
Ausblick
Generell sind derzeit offenbar in erster Linie die “Gruppe Wagner” und freiwillige Kosaken, sowie Truppen der ehemaligen Volksrepubliken von Lugansk und Donetsk im Angriff, während das Gros der regulären russischen Truppen als Reserven in Bereitschaft steht, um bei Krisen einzugreifen. In den letzten Tagen führten sie vereinzelt Gegenangriffe.
In den nächsten Wochen wird Herbstwetter den Einsatz von Fliegern, Artillerie und Abstandswaffen im Osten der Ukraine erschweren. Bewegungen werden auf ein Straßennetz beschränkt sein, das im Sommer nur dort, wo es militärisch notwendig ist, instandgesetzt wurde. Das ohnehin schon tiefe Operationstempo wird sich noch weiter verlangsamen. An der Küste des Schwarzen Meers dürfte das bis zum nächsten Frühling so bleiben, denn der Winter in dieser Region ist von einem raschen Wechsel von Frost und Tauwetter geprägt. Im Norden der Oblaste Zaporozhie, Donetsk und Lugansk wird Frost in ein paar Wochen wieder Bewegungen im Gelände erlauben. Dann muss sich der Kampf um größere Ortschaften konzentrieren, denn auf freiem Feld dürften Wind und Kälte einen dauernden Aufenthalt im Freien schwer erträglich machen und Feldbefestigungen werden schwierig anzulegen sein. Die Russen könnten es darauf anlegen, diese Periode auszusitzen.
Abbildung: Wetter in Donetsk
Quelle: timeanddate.de [Stand: 02.11.2022]
Die russischen Kräfte könnten weiter bestrebt sein, noch nicht eroberte Teile der Oblast Donetsk zu erobern, sowie die jüngst verlorenen Teile der Oblast Kherson. Wichtigstes Ziel für sie muss es jedoch sein, die nahe der Front gelegene Stadt Zaporozhie als Ausgangsraum für größere Angriffsaktionen der UAF auszuschalten.
Wenn die 300’000 mobilisierten russischen Reservisten Einsatzbereitschaft erlangen, wird die strategische Krise Russlands, die mit dem Einmarsch in der Ukraine im Februar begann, beendet sein. Dann haben die russischen Streitkräfte wieder Reserven, um Herausforderungen im Baltikum, im Südkaukasus, Zentralasien oder der Arktis entgegenzutreten. Gleichzeitig sind das nicht genügend Truppen, um ganz Westeuropa zu bedrohen. Die Zahl der zu mobilisierenden Reservisten ist offenbar gut überlegt worden.
Vor den Midterm Elections am 8. November in den USA ist Russland gut beraten, die Lage im Kriegsgebiet zu beruhigen, und alles zu unterlassen, was zusätzliche Hilfe des Westens dringend notwendig erscheinen lässt. Eine eventuelle Teilnahme Wladimir Putins am G-20 Gipfel am 15. November wird ein Indikator dafür sein, ob der Kreml an Gesprächen über die Ukraine interessiert ist: Putin wird sicherlich nicht nach Bali reisen, um sich mehrfach anzuhören, dass Russland die Krim und den Donbass zurückzugeben habe. Nach dem G-20 Gipfel ist dann eine andere Gangart möglich. Wladimir Selenski hingegen wird den Gipfel nutzen, um die wirtschaftsstärksten Länder der Welt um weitere Hilfe anzugehen. Durchschlagende militärische Erfolge hat er bislang nicht vorzuweisen.
Anmerkungen:
- Der Verfasser verwendet ukrainische und russische Ortsbezeichnungen gleichrangig.